Mit „Die Tochter“ inszeniert Kim Hye-jin die gnadenlose Stimme der Ausgrenzung
Mit „Die Tochter“ inszeniert Kim Hye-jin die gnadenlose Stimme der Ausgrenzung
Buchcover ©️ Hanser Verlag
Mütter sind gemeinhin Hüterinnen der Tradition. Das kann vor allem in rigiden, konservativen Gesellschaften zu Konflikten führen, zumal wenn es die Tochter ist, die ihren eigenen Vorstellungen folgt - trotz aller Modernität in Südkorea auch heute keine Selbstverständlichkeit. Kim Hye-jins Roman „Die Tochter“ führt vor, wie weit Generationen auseinander liegen können, wie stark Konventionen die Erwartung an die Kinder prägen, wie unmöglich das gemeinsame Gespräch ist. Die Mutter erkennt zwar „Ich wurde geboren und aufgezogen in einer Kultur, in der man höflich die Augen verschließt und sich ruhig verhält.“ Dass ihre erwachsene Tochter sie braucht, weil sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen kann – sie gehört zum akademischen Prekariat -, dass sie bei ihr einzieht gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin, empfindet sie als ungeheuerliche Zumutung. Sie reagiert mit Schock, Ekel und Abwehr: ausschließlich negative Gefühle - und mit großer innerer Verunsicherung.
Selbstgewissheit und Mangel an Empathie zeichnen diese Witwe in ihren 60ern aus. Es fehlt ihr jegliche Möglichkeit, sich ein Leben mit anderen Prioritäten als den ihren, mit anderen Wünschen und Lebensentwürfen auch nur ansatzweise vorzustellen. Eine Tochter, die weder auf der Suche nach einem Ehemann ist, auch andere Anpassungsleistungen verweigert, bringt sie in übergroße Bedrängnis: anderen gegenüber vor allem. Als „abnormal“ bezeichnet sie ihre Tochter und munitioniert sich selbst mit allen nur denkbaren Normalisierungsträumen, denn anders zu sein als die heteronormative, familienzentrierte Umgebung macht aus der mit vielen Zukunftsprojektionen belegten jungen Frau eine „bedeutungslose Existenz“.
Die Tochter bleibt namenlos, ihre Partnerin Rain heißt nur „Das Mädchen“. In der mütterlichen Ich-Erzählung erhalten beide wenig individuelle Kontur, stecken fest in ihren Rollen bzw. im Urteil der Mutter. Insofern erfahren wir auch nur, was diese wahrnimmt, was sie sich zusammenreimt, welche Ängste sie im Griff haben. Und dazu gehören wachsende Einsamkeit, Schwierigkeiten bei der Arbeit und Angst vor dem Alter. Im Grunde handelt es sich um die Klage einer Person, die mit den Zumutungen des Lebens heute nicht zurechtkommt, die ihren Beruf als Lehrerin selbstverständlich aufgegeben hat, als ihre Tochter geboren wurde, die Verzicht predigt – und erwartet. Die Selbstansprache aus Klage und Anklage mündet zwangsläufig in Wiederholungen, immergleichen Fragen - „Warum verschwendest Du dein kostbares Leben?“, Formeln des Selbstmitleids – „Muß ich vielleicht eine Strafe erdulden?“, Verurteilungen - „Junge Menschen, die ihr Leben einfach vertrödeln, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Freizeit.“ Einige wenige Dialogpassagen mit der Tochter, deren Partnerin sowie mit einer Arbeitskollegin zeigen umso deutlicher das enge Korsett, in dem die Mutter lebt. „Ich lächle und bin gefällig, während ich mich schrittweise zurückziehe ().“
Das alles bewegt sich im Rahmen von Klischees, von irrationaler Realitätsverweigerung: eine Art unzensierter Bewusstseinsstrom. Das „lautstarke Pingpong“ im Kopf der Mutter, ihr starrsinniges Festhalten, ihre Ichbezogenheit erwecken kaum Sympathie. Bei der Arbeit in einem Pflegeheim jedoch kümmert sie sich aufopferungsvoll um eine demente Frau, einst Diplomatin, alleinstehend, wohlhabend, aber ohne Familie, und so soll sie mit fortschreitender Demenz abgeschoben werden in eine Billigeinrichtung. Die Mutter erkennt genau, wie sehr das Pflegepersonal durch Sparmaßnahmen unter Druck gesetzt wird, dass diese den Pflegebedürftigen schaden. Trotzdem ist sie nicht in der Lage, daraus eine allgemeine Erkenntnis über den gesellschaftlichen Druck abzuleiten, gegen den ihre Tochter aufbegehrt. „Sie hätte einfach wegsehen können.“ Damit wird das Engagement der Tochter für Unidozenten, deren Verträge aufgrund ihrer Homosexualität nicht verlängert wurden, zu einer Frage individuellen Fehlverhaltens.
Und doch scheint es, als würde ein Schleier zerreißen, als die Mutter die gewaltsamen Folgen einer Demonstration miterlebt, als Tochter und Partnerin sich mit ihr um die sterbende Patientin und ihre Beerdigung kümmern. Ihr Widerstand schmilzt nach der gemeinsamen Erfahrung: „In den Armen meiner Tochter weine ich wie ein Kind ().“ Sie stellt sich jetzt Fragen, auf die es womöglich keine Antwort gibt, und verlässt das rigide Rechthaben: „Tief drin ist noch immer dieser Teil von mir, der gar nichts verstehen will. Da ist aber auch ein Teil, der alles verstehen möchte, und einer, der vorsichtig aus der Distanz beobachtet.“
Anders als in Taiwan und Japan sind in Südkorea gleichgeschlechtliche Ehen nicht anerkannt: „Es sind Leute wie du, die das verhindern“, so die Tochter zur Mutter. Für die LGBT+-Gemeinde gibt es keine verbrieften Rechte, aus dem Militär sind sexuelle Minderheiten ausgeschlossen, es existieren keine Antidiskriminierungsregelungen. Es haben sich zwar seit einigen Jahren queere Kulturfestivals und universitäre Gruppen etabliert, doch bleiben patriarchaler Konformitätsdruck und soziale Stigmatisierung weiterhin stark. Das haben auch Frauen in der Folge der #MeToo-Bewegung zu spüren bekommen. Eine nicht unerhebliche Kraft stellt dabei auch die konservative protestantische Gemeinschaft zumeist evangelikaler Prägung mit ihren diskriminierenden Ansichten dar. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass die Mutter in Kim Hye-jins Roman Mitglied einer Kirche ist: „Regelmäßig sitze ich hier, starre den Altar an, damit niemand die Worte in mir drin belauschen kann. Worte, die aus mir herausdrängen. Sätze, die ich äußern muß. Sätze, die ich nicht äußern kann. Sätze, die ich nicht äußern darf.“
Die 1983 geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin begibt sich mit ihrem ersten auf Deutsch erschienenem Roman gewissermaßen ins Herz der Finsternis der Gesellschaft, dorthin, wo Traditionen, Vorurteile und Abwehr beharrlich gehütet und weitergegeben werden: ins Unbewusste der Mütter. Mit der Erzählstimme führt sie exemplarisch und in manchmal schwer auszuhaltenden Tiraden geheimste Gedanken vor über das Leben und die Liebe der Tochter. Statt die Betroffenen zu begleiten bzw. deren Argumenten Raum zu geben, hält Kim Hye-jin der Gesellschaft einen Spiegel ihrer eigenen Beschränktheit und ihres Beharrungsvermögens vor. „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ – so hieß ein viel beachteter und weltweit gezeigter Film Rosa von Praunheims von 1971. Er rief damals bereits dazu auf, sich zu organisieren, gemeinsam für eine gleichberechtigte Gesellschaft zu kämpfen.
Kim Hye-jin widmet sich in ihrem Roman der perversen Erstarrung der Normalgesellschaft, indem sie deren Fantasmen lauscht und sie ausstellt, Dinge, die kaum laut geäußert werden, darum aber umso wirkmächtiger sind, ganz gleichgültig, wie modern, hip und fortschrittlich Südkorea, die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt, aussehen mag.
Kim Hye-jin
„Die Tochter“
Roman
aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
176 Seiten
ISBN 978-3-446-27232-3
20,00 €