Im Unterbewusstsein eines jeden »normalen« Menschen gebe es einen »unerschöpflichen Vorrat an vergrabenen Bildern«, die es »ans Tageslicht zu fördern« gelte, schreibt Max Ernst 1934 in seinem Aufsatz »Was ist Surrealismus?«. An diese »vergrabenen Bilder« von Max Ernst (1891-1976), einem der wichtigsten Vertreter der surrealistischen Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mag man sich bei der Bilderwelt in dem Roman »Weiße Nacht« der Koreanerin Bae Suah erinnern, der jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist. Denn die Autorin lässt eine ihrer Figuren darüber nachdenken, ob Wörter nicht still zwischen uns im Raum schweben könnten »wie die objets von Max Ernst«.
Surreale Streifzüge durch Seoul

Bae Suah
"Weiße Nacht"
Roman
Aus dem Koreanischen von Sebastian Bring
159 Seiten
ISBN 978-3-518-43017-0
22,00€
© Suhrkamp Verlag
Dabei beginnt Baes Roman gar nicht surrealistisch, sondern eher konventionell erzählt: Ayami, eine junge arbeitslose Schauspielerin, hat in Seoul in einem »Hörtheater« eine nicht sehr anspruchsvolle Tätigkeit. Ihre Aufgabe ist es, am Eingang Karten zu verkaufen und auf einer kleinen Bühne CDs von Lesungen und Hörspielen vor dem Publikum, meist Oberschülern und Blinden, abzuspielen. Das »Hörtheater war weit und breit das einzige in Seoul und ihr Job vermutlich einmalig auf der Welt«. Doch das kleine Theater, das auch noch über einen Direktor verfügt, wird gerade für immer geschlossen. Wir lernen Ayami an ihrem letzten Arbeitstag kennen. Sie hat die vage Aussicht, Sekretärin eines deutschen Dichters zu werden, den sie am Abend vom Flughafen abholen soll.
Leichte Irritationen finden sich bereits auf den ersten Seiten. Was hat es mit der merkwürdigen Radiostimme auf sich, die Ayami nach den Aufführungen immer zu hören meint, und warum glaubt sie in einem älteren Paar, das sie vor dem Theater länger beobachtet hat, ihre Eltern wiederzuerkennen? Doch dann geraten wir Leser*innen unversehens in ein mehrseitiges Dampfbad von Endzeitbildern und apokalyptischen Metaphern, mit denen ein schwülheißer Seouler Augusttag beschrieben wird: Die Hitze verwandelte die Straßen in »kraterähnliche Gruben«, »Tausende Sterne explodierten gleichzeitig, Meteore verglühten«. »Die Identität der Zellen löste sich auf […]. Der unruhige Schlaf zog Körper in einen kochenden Kratersee, randvoll mit klebrigen Ascheflocken und Stücken löchrigen Bimssteins. […] Am Ende der Hitzewelle blieb von den Menschen nichts als Asche übrig. Sie wurden zu schattenhaften, grauen Geistern.«
Man gewinnt tatsächlich den Eindruck, an diesem Seouler Augusttag in eine Todeszone geraten zu sein, in der uns nur noch Schattenwesen begegnen. Äußere Umrisse beginnen zu verschwimmen, die Handlung spielt überwiegend im Dunklen – auf den Straßen des nächtlichen Seoul, während eines Stromausfalls oder in einem Dunkelrestaurant. Es gibt im Erzählen abrupte Sprünge und Zäsuren, die Grenze zwischen Träumen und Wachen wird durchlässig. Die Figuren scheinen mühelos Zeit und Raum überwinden zu können. Sie überlagern sich wie Schatten, wechseln ihre Identität oder scheinen plötzlich über mehrere zu verfügen.
Auf Empfehlung des Direktors des Hörtheaters hat Ayami privaten Deutschunterricht bei einer älteren Frau genommen, die plötzlich spurlos verschwindet. Nach der Schließung des Hörtheaters trifft sich Ayami am Abend mit dem Direktor zum Essen, es gibt Anzeichen, dass die beiden ein Paar gewesen sind, das sich gerade getrennt hat – oder ist der Direktor vielleicht sogar ihr Vater, den sie nie kennengelernt hat? Die beiden begeben sich jedenfalls auf die nächtliche Suche nach der Deutschlehrerin. Später durchstreift Ayami mit dem deutschen »Dichter« namens Wolfi, der sich als Krimiautor entpuppt, das sommerlich-heiße Seoul, besucht mit ihm eine Fotoausstellung. Das ist in etwa die grobe Handlung des Romans.
Doch Bae Suah macht es dem Leser, der Leserin nicht leicht. Erwartungen an einen kontinuierlichen Verlauf der Handlung werden jäh durchkreuzt, die Protagonistin Ayami wird uns bei der Lektüre nicht etwa vertrauter, auch wenn wir allmählich ahnen, dass sie selbst sich auf der Suche nach ihrer Herkunft, ihrer Identität befindet. Aber gibt es überhaupt diese unverwechselbare Identität, die uns eigen ist, oder träumen wir uns nur gegenseitig, existieren nur, weil andere sich uns vorstellen? Wie Figuren in einem Roman? »Trinken wir darauf, Produkt der Vorstellung des jeweils anderen zu sein«, schlägt der Direktor Ayami nach diesen philosophischen Fragen vor.
Auf sehr kunstvolle Weise vermag Bae Suah die einzelnen Handlungssequenzen ihres Romans in der Schwebe zu halten zwischen Traum, Vorstellung und Realität, beispielsweise indem sie die Erzählperspektive wechselt: Gleiche Episoden werden, leicht nuanciert, aus verschiedenen Blickwinkeln geschildert. Auch die häufige, fast wortgleiche Wiederholung ganzer Sätze ist ein Mittel, den Text leitmotivisch zu strukturieren und gleichzeitig den Leser, die Leserin zu verunsichern. Sind die mit denselben Worten beschriebenen Personen und Ereignisse am Ende vielleicht doch identisch? Und warum ist in schöner Regelmäßigkeit in Gesprächen zwischen Paaren von einem Brief die Rede, in dem ein Partner dem anderen ankündigt, ihn zu verlassen?
Den Text überzieht ein feines Gespinst von Verweisen und Bezügen, das erst zum Ende hin sichtbar wird, ohne die Rätsel des Romans ganz aufzulösen. Eindrücklich in Erinnerung bleiben surreale Traumbilder, die an Motive von Edward Hopper oder Filmszenen David Lynchs erinnern. Ein weißer Bus etwa, der hellerleuchtet durch das nächtliche, wie ausgestorben wirkende Seoul scheinbar ziellos im Kreis fährt. Er hat immer dieselben Passagiere an Bord: Einen Mann in Mönchskutte und einige ältere Frauen, die um einen Tisch herum sitzen. »Sie lasen eine illustrierte Ausgabe des Kamasutra, die in lebendigen Farben Männer und Frauen in merkwürdigen Stellungen zeigte.«
Bae Suah, 1965 in Seoul geboren, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der koreanischen Gegenwartsliteratur. Nach einem Studium der Chemie und Tätigkeiten als Beamtin im Verteidigungsministerium und an einem Seouler Flughafen ist sie heute freie Schriftstellerin, in Seoul und Berlin lebend. Seit 1993 veröffentlicht sie literarische Texte und Essays, bisher sind zwanzig Romane und Erzählbände von ihr erschienen. Zur deutschsprachigen Kultur hat Bae Suah eine besondere Affinität, sie lernte Deutsch und übertrug u. a. Werke von Franz Kafka, W. G. Sebald, Jenny Erpenbeck und Christian Kracht ins Koreanische. 2018 war sie Writer in Residence des Literaturhauses Zürich.
»Weiße Nacht«, bereits 2013 in Korea erschienen und 2020 ins Englische übersetzt, ist Baes erster Roman in deutscher Übersetzung. Man kann ihn auf vielfältige Weise lesen, sicherlich auch als ein Porträt des Wandels der sozialen Stellung der Frau in einer sich rasch verändernden postindustriellen Gesellschaft oder als Künstlerinnenroman, er bleibt aber immer ein surreales Vexierspiel, das die Imagination seiner Leser*innen herausfordert. Es ist zu hoffen, dass Übersetzungen weiterer Werke Baes folgen werden, damit auch das deutschsprachige Publikum die eigenwillige Erzähl- und Bilderwelt dieser Autorin näher kennenlernen kann.