Literatur

„Übersetzen ist eine hoch-integrative Disziplin“

Interview mit Dr. Albrecht Huwe, dem Leiter des in Europa einmaligen Studiengangs „Koreanische Sprache und Translation“ an der Universität Bonn und Verfasser der „Kurzen systematischen Grammatik der koreanischen Sprache“
 

Sie haben kürzlich die „Kurze systematische Grammatik der koreanischen Sprache“ veröffentlicht. Was ist die Besonderheit an dieser Publikation?

›Kurz und systematisch‹ stand als Leitgedanke für die Kompilation: Die wesentlichen grammatischen Erscheinungen der koreanischen Sprache sollen prägnant in ihrem Zusammenhang erklärt werden. Diese inhaltliche Vorgabe findet ihre Entsprechung in der äußeren Gestaltung: Eine möglichst übersichtliche, mit grafischen Elementen aufgelockerte Strukturierung des Stoffes. Auffällig ist in diesem Zusammenhang eine bunte Raupe, die leitmotivisch immer wieder abgebildet ist – eine Raupe in einem Grammatikbuch? Ihr Kopf und die zahlreichen Körpersegmente sind ein gutes Anschauungsobjekt für das koreanische Verb und das für das Koreanische typische Prinzip der Agglutination: Der Verbstamm mit seinen zahlreichen, in der Aneinanderreihungsfolge indessen unverrückbaren Suffixen.

Insbesondere für den Sprachlernanfänger (die weibliche Form ist selbstredend immer mitgenannt) sollen die Grundprinzipien der koreanischen Sprache mit dieser sog. ›Kurzgrammatik‹ erschlossen werden.

Welche „Mängel“ an bereits existierenden Lehrwerken haben Sie dazu veranlasst, eine eigene Grammatik der koreanischen Sprache herauszubringen?

Von Mängeln möchte ich nicht sprechen, denn die perfekte Grammatik wird es schlicht nicht geben. Jede Grammatik setzt ihre eigenen Schwerpunkte für eine bestimmte Zielgruppe. So haben die Grammatiken etwa von Andre Eckardt, Bruno Lewin, Kuh Kih-Seong, Sohn Ho-Min, mir sehr geholfen, die grammatikalischen Zusammenhänge des Koreanischen zu verstehen und die Erkenntnisse nutzbringend im Unterricht anzuwenden. Die jahrzehntelange fremdsprachendidaktische Herausforderung hat dann zu der Idee der ›Kurzgrammatik‹ geführt, den Studierenden auf noch einfacherem und schnellerem Weg das grammatische System des Koreanischen zu erschließen.

Hinzu kommt die Lehrbuchsituation, die aus verschiedenen Gründen eigentlich nie voll befriedigend sein kann. Zumindest die vorhandenen, aus verschiedenen Lektionen aufgebauten Lehrbücher für das Koreanische behandeln grammatische Phänomene sehr gestückelt. So wird der Durchblick erschwert, und das Sprichwort »Vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen« erhält seine volle Gültigkeit. Aber der Erwerb einer Fremdsprache gerade bei erwachsenen Lernern, zu denen eben auch die Studierenden gehören, geschieht weniger über Nachahmung wie bei Kindern als über das geistige Erfassen des grammatischen Systems. So stellt die ›Kurzgrammatik‹ ein ausgleichendes Gegengewicht dar zu der gestückelten Präsentation der Grammatik durch die Lehrbücher.

Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie die Gliederung und Gewichtung der Inhalte vorgenommen?

Ein Gesichtspunkt besteht im Erwerb der Fähigkeit, koreanische Sätze und ihre Struktur sicher zu erkennen. Zu oft musste ich erleben, wie die Lerner anfingen, den Sinn von Sätzen zu raten, weil sie die grammatischen Funktionen nicht auseinanderzuhalten vermochten. Das ist aber mit einem universitären Übersetzerstudiengang unvereinbar. Man muss wissen, dass Nomen durch Anfügung von bestimmten Postpositionen (Partikel) in einem Satz die Funktion eines Themas, Subjekts, Objekts oder einer adverbialen Bestimmung übernehmen und Verben durch Anfügung von Konjunktionen und partizipialen Anschlussformen Neben- bzw. Attributsätze bilden.

Wichtig ist auch, da strukturbildend, das Honorativsystem des Koreanischen.

Für eine mögliche zweite Auflage wäre es wünschenswert, etwa das Raum-Zeit-System ausführlicher in einem gesonderten Kapitel zu behandeln. So ist beispielsweise der Begriff von Vergangenheit ein zum großen Teil anderer als im Deutschen.

Vor vielen Jahren haben Sie selbst die koreanische Sprache erlernt. Welche Lehrmittel standen Ihnen damals zur Verfügung?

Anfang der siebziger Jahre waren das zunächst nur die Grammatik und das Übungsbuch des damals schon hochbetagten, ehrwürdigen Andre Eckardt, dem Nestor der Koreawissenschaften, meinem ersten Lehrer in Koreanisch. In Korea wurde zu der Zeit das Lehrbuch Myongdo's Korean 68 eingesetzt, das die sog. pattern drill-Lehrmethode eingeführt hatte. Die Lehrmaterialien konnte man also leicht an einer Hand abzählen. Wenn man dagegen heutzutage in eine große Buchhandlung in Korea geht, sind die Regale gefüllt mit den verschiedensten, miteinander z.T. konkurrierenden Lehrwerken, die selbstredend mit entsprechender Sprachübungs-CD ausgestattet sein müssen. Damals gab es das Fach Koreanisch als Fremdsprache in Korea noch nicht. Das wurde erst viel später zu einem regelrecht boomenden Fach.


 

© Foto Albrecht Huwe, Veröffentlichung des Covers mit freundlicher Genehmigung des E. Ferger Verlags

Kurze systematische Grammatik der koreanischen Sprache

Dr. Albrecht Huwe
E.Ferger Verlag 2014
Bergisch Gladbach
9,00 Euro (Versand bei Bezug über Verlag kostenlos)
ISBN: 9783931219512




Sie leiten den in Europa einzigartigen Studiengang „Koreanische Sprache und Translation“ an der Universität Bonn. Wie macht sich der Schwerpunkt „Übersetzung“ in den Studien­inhalten bemerkbar bzw. was unterscheidet den Studiengang in Bonn von Studiengängen für Koreanistik/Koreastudien an anderen deutschen Universitäten?

Es ist in der Tat ein einzigartiger Studiengang in Europa. Denn es sind auch Studenten aus Russland nach Bonn gekommen, extra wegen der Möglichkeit, Übersetzen in dieser asiatischen Sprache studieren zu können. Aber leider bestehen derzeit konkrete Pläne in der Universität, diesen erfolgreichen Studiengang nach meiner Pensionierung Ende 2015 abzuschaffen. Das wäre insofern auch sehr bedauerlich, weil er 1972 als Zeichen der Hochachtung vor der Kultur der koreanischen Krankenschwestern und Bergmänner etabliert wurde, die zu der Zeit nach Deutschland kamen.

Nun zum zweiten Teil Ihrer wichtigen Frage. Auch wenn man in einer Fremdsprache einige Fortschritte gemacht hat, weiß man aus Erfahrung, dass man noch nicht in der Lage ist, unbedingt dolmetschen und übersetzen zu können, insbesondere aus der Mutter- in die Fremdsprache. Es bedarf erst einer besonderen Ausbildung, um das einzigartige Beziehungsgeflecht zwischen den beiden Sprachen, die integrativer Bestandteil ihrer Kulturen sind, bewusst zu machen.

Übersetzen ist eine hoch-integrative Disziplin, die unter Einbeziehung von Theorie und Praxis in Verbindung mit allen Fächern denkbar ist. Übersetzen stellt auch eine hoch-komplexe Tätigkeit dar, die auf möglichst umfangreichen Sachkenntnissen sowie auf sprach-, text-, kommunikations-, kulturwissenschaftlichen u.a. Kenntnissen beruht. Dies alles ist Gegenstand der theoretischen und praktischen Ausbildung.

Bezüglich Ihrer Frage nach dem Unterschied zwischen den Bereichen Koreanische Sprache und Translation einerseits und Koreanistik/Koreastudien andererseits möchte ich auf die Tatsache verweisen, dass ich selbst als Schüler des herausragenden Japanologen und Koreanisten Bruno Lewin dem koreanistischen Zweig entstamme. So empfinde ich die beiden Richtungen wie zwei Seiten einer Medaille, die sich gut ergänzen können. In beiden Bereichen stehen die landeskundlichen Kenntnisse und ihr Erwerb an zentraler Stelle.

Den Hauptunterschied sehe ich in dem oben angedeuteten Zweck, den man mit den Texten jeweils verfolgt und dem Umgang mit ihnen. In der Koreanistik finden häufig Lektüre-Kurse statt. Auch hierbei wird – landläufig formuliert – übersetzt. Aber dieses Übersetzen begnügt sich mit der Wiedergabe des Inhalts in der Zielsprache im Rahmen des eigenen, individuellen Verstehens. Das genügt etwa als Entscheidungsgrundlage dafür, ob und wie der Text für die eigenen Forschungszwecke brauchbar ist. Dieses ‚Lektüre-Übersetzen‘ hat mit dem eigentlichen Übersetzen allerdings wenig gemein. Bei letzterem wird der Ausgangstext über einen wissenschaftlich nachvollziehbaren, also objektivierbaren Translationsprozess in den Zieltext überführt. Ausgehend von externen und internen Textfaktoren, die den Ausgangstext charakterisieren, wird dieser Prozess von dem erwähnten Übersetzungsauftrag gesteuert. Er führt den Übersetzer entweder in eine funktionale oder dokumentarische Übersetzungsrichtung (Übersetzungsstrategie). So können als Endprodukt zwei prinzipiell verschiedene Zieltexte entstehen (vgl. auch weiter unten).

Wie weit sollte sich Ihrer Ansicht nach der Übersetzer/die Übersetzerin von der Ausgangs­sprache auf die Zielsprache zubewegen, um einerseits die Eigenheiten der Ausgangssprache so weit wie möglich beizubehalten und andererseits ein möglichst natürliches Ergebnis in der Zielsprache zu erzielen?

Das ist eine häufig gestellte Frage, mit deren Beantwortung man die sprichwörtlichen Bände füllen könnte. Sie erinnert an die von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) vor zweihundert Jahren geprägte Übersetzungsmaxime, die die moderne Übersetzungswissenschaft ungemein beflügelt hat: »Entweder der Uebersezer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.« Allerdings vermag auch Schleiermacher, soweit ich den auch heute noch anerkannten Platon-Übersetzer verstehe, die ideale Übersetzung nicht wirklich zu benennen. Denn die kann es eigentlich nicht geben. Ein ‚Sprache-Kultur-Empfindungs-System‘ kann nicht eins zu eins durch ein anderes ersetzt werden. Man spricht deswegen von prinzipieller Unübersetzbarkeit von Texten. Aber man kann aus der Not eine Tugend machen: Man konzentriert sich auf bestimmte Teile, die einem wichtig sind. Das heißt, man übersetzt wie oben schon angedeutet entweder dokumentarisch oder funktional. Beim dokumentarischen Übersetzen versucht man, bestimmte Phänomene der Ausgangssprache mit Hilfe der Zielsprache wiederzugeben. Also beispielsweise typische Wortkombinationen, Kollokationen, oder die Satzstellung usw. usf. Das funktionale Übersetzen konzentriert sich auf die Kommunikationsfunktion eines Textes, seine Wirkungsintention. Aber hier muss man aufpassen. Ein Text kann in der Ausgangskultur zwar eine bestimmte Wirkung haben, muss es aber nicht automatisch in der Zielkultur. Ein Beispiel dafür sind Witze. Beim funktionalen Übersetzen interessieren also etwa Fragen nach Wortstellungen, Satzbaumustern des Ausgangstexts grundsätzlich nicht.

Was die ideale Übersetzung ist, wurde im Laufe der Geschichte immer wieder neu diskutiert. Jede Epoche hat versucht, ihr eigenes Ideal zu finden.

Können Sie ein Übersetzungsbeispiel aus der Praxis geben?

Schon in den ersten Lektionen der meisten Lehrbücher wird der Besuch eines Geschäftes behandelt. Wenn in Korea der Kunde das Geschäft betritt, wird er oft mit »Eoseo osipsio « begrüßt. Man könnte fast eine Wette eingehen, dass jeder Lerner dies so übersetzt, wie er die einzelnen Wörter gelernt hat, nämlich »Kommen Sie schnell!«. Damit könnte man schon zufrieden sein. Hat doch der Student gezeigt, dass er seine Vokabeln und Grammatik gelernt hat. Ein Übersetzer wird damit noch nicht einverstanden sein. Denn die Übersetzung (Kommen Sie schnell!) erfüllt nicht die kommunikative Funktion des Grußes in der gegebenen Situation, im Koreanischen ja, aber eben nicht im Deutschen. Also werden die Studenten darauf hingewiesen, dass man im Deutschen in dieser Situation eigentlich nicht mit diesen Worten begrüßt wird. Wie dann? lautet die anschließende Frage. Nach einigem Überlegen kommt die Antwort: »Guten Tag!«, oder: »Guten Tag! Womit kann ich Ihnen helfen?« oder ähnliche Worte. Diese kommunikative Funktionalität von Sprache manifestiert sich selbstverständlich nicht nur in einzelnen Wörtern und Sätzen, sondern weitet sich auf ganze Texte aus. Kommunikation ist oft spezifisch für eine Kultur. Nur selten ist sie ohne Reibungsverluste in eine andere Sprache bzw. Kultur übertragbar, besonders wenn es sich um so verschiedene Sprachen und Kulturen handelt wie im Falle Deutschlands und Koreas. Die elegante, indessen textsortenspezifische Umgehung dieser Reibungsverluste, ist eine für Übersetzer spannende Herausforderung. - Ein zentraler Begriff der modernen Übersetzungswissenschaft stellt der sog. Übersetzungsauftrag dar. Er zeigt dem Übersetzer die anzuwendende Übersetzungsstrategie auf. Das hängt mit der allgemein kaum beachteten, aber sehr wichtigen Frage zusammen, welchem Zweck denn die Übersetzung selbst dienen soll.

Welche allgemeinen Tipps würden Sie abschließend Koreanisch-Lernern und -Lernerinnen an die Hand geben, die am Anfang ihres Spracherwerbs stehen?

Bei all dem fleißigen Koreanisch-Lernen sollte man als erwachsener Lerner unbedingt nicht seine Muttersprache vernachlässigen. Denn nur eine Horizonterweiterung in der Muttersprache ermöglicht eine solche in der Fremdsprache.

                                                                                                                                 
                                                                                                                                  Das Interview führte Gesine Stoyke
                                                                                                                                                    Redaktion „Kultur Korea“

 

Weitere Informationen zu der Grammatik finden Sie unter folgendem Link: http://www.e-ferger-verlag.de/buchkatalog/koreanische-kurzgrammatik


 

Foto: privat

Albrecht Huwe (Jg. 1950) studierte Koreanistik an den Universitäten München, Seoul und Bochum. Er betreut als Privatdozent an der Universität Bonn seit vielen Jahren erfolgreich den in Europa einzigartigen Studiengang Übersetzen Koreanisch mit dem Abschluss Diplom, jetzt Master.

Seine eigenständigen Forschungen zum koreanischen Han'geul-Alphabet wurden mit einem koreanischen Orden honoriert. Für seine Verdienste um die deutsch-koreanischen Beziehungen erhielt er den Mirok-Li-Preis. 2011 benannte ihn das KLTI zum Übersetzer des Jahres.

Gesine Stoyke

Redaktion "Kultur Korea"

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