Sonderausgabe 2020

„Wir haben an die Mauer geschrieben: ,Erst Deutschland, nun auch Korea‘“

Ausstellung im Nordbahnhof in Berlin: Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin

Ausstellung im Nordbahnhof in Berlin: Grenz- und Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin (Foto: privat)

Im Gespräch mit der Zeitzeugin Eui Ok Shu
 

Ihr Traum von Freiheit erfüllte sich ausgerechnet im eingemauerten Westberlin. Vor 46 Jahren kam sie als Krankenschwester und blieb – bis heute. Ihre Biografie ist von dieser Stadt geprägt. Sie hat den Alltag der Teilung, den Fall der Mauer, die Wiedervereinigung und das Zusammenwachsen von Ost und West erlebt.

Eui Ok Shu ist heute in Rente, arbeitet noch sporadisch in ihrem früheren Zweitberuf als Heilpraktikerin und wohnt in einem genossenschaftlichen Wohnprojekt in Berlin-Mitte. Sie erinnert sich an ihre Anfangszeit in Berlin zurück: „Ich kam im Januar 1974. Der Himmel war jeden Tag grau, es wurde nie hell. Es gab kaum Menschen auf der Straße, außer ein paar alten Damen in Persianermänteln, die ihre Pudel ausführten. Das waren meine ersten Eindrücke.“ Sie wohnte zunächst in einem Schwesternwohnheim im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Schöneberg. Die Stadt Berlin finanzierte ihr einen dreimonatigen Deutschkurs am Goethe-Institut. Das bedeutete einen halben Tag Arbeit und einen halben Tag Sprachkurs. „Natürlich reichte das nicht. Anfangs habe ich unter der Sprachbarriere gelitten. Ich konnte nur in vereinfachter Form kommunizieren und meine Meinung nicht adäquat äußern. Das war erst nach zwei, drei Jahren möglich.“ Sie hatte das Glück, immer deutsche Freundinnen und Kolleginnen an ihrer Seite zu haben.

Die Teilung Berlins begleitete sie auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit. Zu einer Zeit wohnte sie in Kreuzberg, arbeitete aber im Wedding. Von den elf U-Bahnstationen, die sie zurücklegen musste, lagen acht im Ostteil der Stadt. „Die U-Bahnzüge fuhren durch diese acht ,Geisterbahnhöfe‘, ohne anzuhalten. In den schwach beleuchteten Stationen waren die Umrisse von Wachposten oder Soldaten zu erkennen. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie das damals war.“ 25 Jahre lang arbeitete sie auf einer Sozialstation. Während dieser Zeit hatte sie einige Patienten, die unmittelbar an der Mauer lebten. „Ich sah tagtäglich die DDR-Grenztürme mit den Wachposten.“ Wenn sie nach Westdeutschland fahren wollte, reiste sie anfangs meist mit dem Flugzeug. Ostberlin besuchte sie nie. „In Berlin bist du überall an Mauern gestoßen. Ich bin in dieser Situation nach Berlin gekommen. Daher habe ich die umgebenden Mauern nie in Frage gestellt. Ich konnte mir Berlin ohne Mauern nicht vorstellen.“

1972 vor dem Krankenschwesternexamen

1972 vor dem Krankenschwesternexamen (Foto: privat)

Eui Ok Shu erzählt von ihrer Jugend in Korea: „Damals war die Gesellschaft sehr stark vom Konfuzianismus geprägt.“ Frauen wurden nicht als gleichwertig betrachtet. Auch wenn sie keine genaue Vorstellung davon hatte, was sie in Deutschland erwarten würde, war für sie eines ganz klar: „Ich würde dort freier atmen können.“ In Westberlin kam sie in Kontakt mit der Post-68-er-Studentenbewegung und freundete sich mit Leuten an, die Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre auf der Suche nach alternativen Lebensformen in die Stadt strömten. 1978 schloss sie sich der Demokratiebewegung an. Bis heute engagiert und interessiert sich die Aktivistin für Sozialbewegungen, Frieden auf der koreanischen Halbinsel, für Umwelt- und Genderfragen sowie die globale Friedens- und Antikriegsbewegung.

Der Mauerfall ist eines jener einschneidenden historischen Ereignisse, die sich ewig ins Gedächtnis einbrennen. Am 9. November 1989 gegen 23.30 Uhr fiel der erste Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße. Kurz nach 0.00 Uhr waren alle Grenzübergänge Berlins geöffnet. Zum ersten Mal seit dem Mauerbau 1961 konnten Zehntausende DDR-Bürger den Westteil der Stadt wieder ungehindert betreten. Am denkwürdigen Abend des 9. Novembers erhielt Eui Ok Shu einen Anruf von Freunden. Wegen ihrer Kinder musste sie zu Hause bleiben, aber viele Freunde und Nachbarn waren die ganze Nacht unterwegs und haben ihr später vom Geschehen auf den Straßen berichtet: „Bürger aus Ost und West haben gemeinsam auf dem Kudamm gefeiert. Viele hatten Sektflaschen dabei, Fremde wurden umarmt, es wurde geweint und gelacht. Es war eine Riesenparty, wie man sie nur einmal erlebt.“ Am nächsten Tag ging Eui Ok Shu zum Brandenburger Tor. Mit ihren koreanischen Freunden und Mitstreitern entrollte sie mehrere Plakate. Auf einem stand „Korea is one“. „Das erregte schon einiges Aufsehen“, erinnert sie sich. „Viele Deutsche sind zu uns gekommen und haben uns eine baldige Wiedervereinigung gewünscht. Wir haben an die Mauer geschrieben: ,Erst Deutschland, nun auch Korea‘.“

Der Mauerfall weckte auch in Korea neue Hoffnungen auf das, was möglich sein könnte. Es kamen zahlreiche Gratulationen aus der koreanischen Heimat. „Wir Koreaner haben die Deutschen damals sehr beneidet.“

In Deutschland machte sich nach der anfänglichen Euphorie Ernüchterung breit. „Heute, nach 30 Jahren, kann man wirklich sagen, dass die deutsche Wiedervereinigung gelungen ist“, sagt die Heilpraktikerin. „Aber damals ging alles viel zu schnell. Die DDR wurde von Westdeutschland vereinnahmt, und die DDR-Bürger wurden zu Menschen zweiter Klasse degradiert.“ Nach dem  Mauerfall besuchten einige ostdeutsche Patienten Eui Ok Shus Naturheilkundepraxis, um sich wegen Angststörungen behandeln zu lassen: „Sie hatten das Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen worden war. Denn auf einmal war der Staat weggebrochen, der sie bis dato versorgt hatte. Bis heute kommen unter anderem Leute zu mir, die im Osten aufgewachsen sind, um verschiedene Traumata aus der Vergangenheit aufzuarbeiten.“

Ein, zwei Tage nach der Grenzöffnung besichtigte Eui Ok Shu den Boulevard Unter den Linden („der Dom und die Museumsinsel – das sind die schönsten Ecken von Berlin!“). Noch im Jahr des Mauerfalls reiste sie nach Prag. Später besuchte sie Orte in der ehemaligen DDR.

Eui Ok Shu heute

Eui Ok Shu wurde 1953, im letzten Jahr des Koreakriegs, in Daegu als jüngstes von sieben Geschwistern geboren und wuchs in Busan auf. Ihre frühe Jugend war von den Nachwehen des Koreakriegs geprägt. Nach einer Krankenschwesternausbildung kam sie im Alter von 21 Jahren nach Berlin. Sie arbeitete 10 Jahre in verschiedenen Krankenhäusern und 25 Jahre auf einer Sozialstation. Seit 1993 ist sie nebenher als Heilpraktikerin mit dem Schwerpunkt TCM und traditionelle chinesische Medizin tätig. Von 2008 bis 2016 führte sie zusammen mit koreanischen Freundinnen ein koreanisches Restaurant. Seit 1978 bis heute engagiert sie sich politisch. (Foto: Eunbi Kwon)

Nach der Wiedervereinigung taten sich ihr unerwartet neue Mauern auf: Heute, sagt sie, würde sie sich nicht mehr trauen, in bestimmte ostdeutsche Gebiete zu reisen - aus Angst vor rassistischen Übergriffen wegen ihrer asiatischen Identität. „Aber Rassismus gibt es überall auf der Welt“, gibt sie zu bedenken. Nicht erst seit der Wiedervereinigung kennt sie Erfahrungen der Diskriminierung: Diese waren bereits während ihres Westberliner Alltags an der Tagesordnung. Ein abfälliger Kommentar hier, ein schräger Blick dort. Manchmal kamen wildfremde Leute auf sie zu und fragten sie, womit sie eigentlich ihren Lebensunterhalt verdiene. „Die dachten, ich lebe auf Kosten des deutschen Steuerzahlers“, sagt die diplomierte Krankenschwester, die zeit ihres Lebens gearbeitet hat. „Ich habe mich schrecklich mit diesen Leuten angelegt.“

Trotz ihrer Vorsicht bei manchen Reisen kann sie dem, was man vielleicht als Ostmentalität bezeichnen könnte, viel Positives abgewinnen: „Ich mag irgendwie die Leute, die im Osten sozialisiert sind. Viele haben einen größeren Gemeinschaftssinn und sind nicht so zum Egoismus erzogen wie manche Leute aus dem Westen.“, sagt Eui Ok Shu. Zwei ihrer drei Töchter sind mit Partnern liiert, deren Familien aus der ehemaligen DDR stammen.

Rückblickend haben sich natürlich die Hoffnungen auf eine baldige koreanische Wiedervereinigung nicht erfüllt, wie sie 1989 auf einmal vorstellbar schien. „Diese ist nach wie vor ein Traum der koreanischen Nation.“ Als erste Etappe auf einem langen Weg sieht Eui Ok Shu das Streben nach Frieden auf der koreanischen Halbinsel. „Im Moment herrscht ja immer noch Waffenstillstand zwischen den beiden Landesteilen. Es kann jederzeit wieder ein Krieg ausbrechen. Der allererste und wichtigste Schritt ist die Beendigung des Kriegszustands, in dem sich die zwei Koreas de facto seit 70 Jahren befinden. Der Waffenstillstandsvertrag muss unbedingt in einen Friedensvertrag umgewandelt werden.“ Diesen sieht Eui Ok Shu als Voraussetzung für einen Abbau der Feindseligkeiten, für direkte Kontakte und für einen Austausch auf ziviler Ebene zwischen beiden Staaten. Für Korea könnte sie sich eine Entspannungspolitik nach dem Vorbild der Politik Willy Brandts vorstellen, die langfristig zu einer Annäherung etwa in Form von grenzübergreifenden Familienkontakten und innerkoreanischem Briefverkehr führt. Darüber hinaus ist sie für eine Lockerung der Sanktionen gegenüber Nordkorea, die Wiederanbindung der innerkoreanischen Schienenwege und die erneute Aufnahme der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Süd und Nord (in dem Zusammenhang verweist sie auf die Wiedereröffnung der innerkoreanischen Wirtschaftssonderzone Gaeseong). „Wenn es dem Norden wirtschaftlich besser geht, können vielleicht auch die Menschenrechtsfragen angegangen werden.“ Sie fügt hinzu: „Aber das alles geht nicht ohne die Unterstützung der USA. Sie werden immer wieder neue Sanktionen verhängen.“ Gerade in Zeiten, in denen die politische Situation verfahren ist, setzt sie im Annäherungsprozess ihre Hoffnung auf die Rolle von bürgerschaftlichem Engagement.

Trotz der derzeit herrschenden Eiszeit zwischen Süd und Nord betont sie: „Wir dürfen nicht resignieren. Ich sehe viel mehr Chancen als früher, da nicht mehr alle Menschen in Südkorea dem Norden gegenüber feindselig eingestellt sind.“ Sie spricht sich dafür aus, zunächst einmal „die Tabus, den Hass und die Vorurteile zu durchbrechen“.

Eine schnelle Wiedervereinigung wie in Deutschland hält sie im Falle von Korea nicht für ratsam. Stattdessen wünscht sie sich zunächst eine friedliche Koexistenz beider Koreas. „Wir können ganz vieles von Deutschland lernen. Gleichzeitig können wir die Fehler, die Deutschland bei der Wiedervereinigung gemacht hat, umgehen.“

Gesine Stoyke

Redaktion "Kultur Korea"

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